Bauen verändert die Seele der Stadt

Bauen verändert die Seele der Stadt

Gesellschaftliche Entwicklung reanimiert das Wohnen in Städten

Seit einigen Jahren stehen immer wieder Baukräne am Stadtplatz. Für jeden wahrnehmbar verändert sich die „gute Stube“ der historischen Altstadt. Wirtschaftliche Zwänge und gesellschaftliche Trends treiben die Erneuerung an. Wer die Zeichen versteht, kann erkennen, dass es viele Menschen in die Stadt zieht, während jahrelang das Häuschen im Grünen als Idealvorstellung diente. SchauRein! hat sich erkundigt, warum das so ist und was die Stadt dafür leistet.

Franz Blüml, derzeit der erfolgreichste Projektplaner in Tittmoning, hat ein Katasterblatt der Altstadt zur Hand, in dem alle Häuser, die von seinem Büro für eine zeitgemäße Nutzung umgestaltet worden sind, blau eingefärbt sind. Die blaue Fläche scheint etwa ein Drittel der Gesamtfläche einzunehmen. Ohne dass sich die denkmalgeschützte Fassade der Stadt groß geändert hätte, sind hier neue Nutzungen entstanden, die den Charakter der Stadt prägen. Es wäre falsch, diese Veränderung pauschal zu bedauern. Die Stadt ist nach dem Untergang des Fürsterzbistums Salzburg im toten Winkel des Königreichs Bayern zur Bedeutungslosigkeit verkommen und war weder als Gewerbe- noch als Fremdenverkehrsort in der Lage, die nötigsten Mittel zur Existenzerhaltung zu erwirtschaften. Auch nach dem zweiten Weltkrieg ließ das Wirtschaftswunder lange auf sich warten – ein bedeutender Industriestandort mit mehreren Weltmarktführern in den jeweiligen Branchen wurde Tittmoning erst im 21. Jahrhundert.

Der Stadt sei dadurch sehr viel historische Substanz nahezu unverfälscht erhalten geblieben, betont Blüml. Heute, nachdem der Siedlungs-Flächenfraß und die Verödung der Innenstädte durch „moderne“ Neubauten als Irrweg gesehen werden, sei das ein beachtlicher Wert.

Wesentlich für das neue Selbstbewusstsein der Stadt ist aber die Veränderung der gesellschaftlichen Bedürfnisse in Folge der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Zeit des patriarchalen Bürgertums, in der die Namen der Besitzer stolz auf den Fassaden präsentiert worden sind, ist vorüber. Ein paar Namen, wie z.B. Franz Bründl, Georg Zellbeck, Brauerei Krieger, Anton Eder sind auf den Fassaden stehen geblieben, obwohl die Räume leer stehen oder von anderen Unternehmen genutzt werden. Die heute üblichen Ansprüche an Wohnungen sind mit den Mitteln eines Einzelkaufmanns nicht erfüllbar, sie erfordern professionelles Investment. Dafür entstehen aber Wohnräume und Infrastruktur, die insbesondere von jungen Leuten gern angenommen werden. Die Verjüngung der Bevölkerung kann man an der Präsenz von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Raum erkennen.

Moderne Bedürfnisse erfordern neue Wohnkonzepte

In letzter Zeit sind bedeutende Umbauten und neue Nutzungen realisiert worden. Der Gebäudekomplex der ehemaligen Brauerei Krieger ist zu einer modernen Wohnanlage geworden. Gerade erst fertiggestellt ist das Domizil des Eisenwaren- und Getränkemarkts Schindler, der zwei Bürgerhauser und einen Laden im Nebengebäude umfasst. Laufende Umbauten sind an den Häusern Stadtplatz 14 und 15 im Gang. Hier entstehen moderne Wohnungen, großzügige Ladenlokale und eine Passage zur Gabelsbergerstraße, von wo bald ein Weg über das Pagodengrundstück zu den schwach frequentierten Parkplätzen in der Au führen soll. Ebenfalls weit fortgeschritten ist der Umbau des ehemaligen Hörmüller-Anwesens in der Mühlenstraße und des gegenüberliegenden Hauses, das zuletzt von Ikonenmaler Jochen Sengfelder genutzt war.

Für die nähere Zukunft sei das Baugebiet am Alten Bahnhof interessant, bei dem nun die Vorgaben des Bebauungsplans in konkrete Projekte umgesetzt werden können. Mögliche Zukunftsprojekte seien u.a. die Wohnhöfe im Hüttenthaler Feld, die aber nicht nur wegen der notwendigen Bildung von Baugemeinschaften schwierig zu realisieren sind, auch die Nähe zum Nachbarn ist vielen Bauwilligen nicht geheuer. Für den Hotel-Komplex „Alte Post“ bestehen schon Modelle und Pläne, die aber aus mehreren Gründen vorerst ruhen. Es sei immer gut, wenn man über komplexe Zusammenhänge schon einmal gründlich nachgedacht habe.

Beim Bauen auf den Charakter achten

Bei allen Projekten sei es wichtig, den Charakter eines Gebäudes zu verstehen. Viele Renovierungen würden daran scheitern, dass man aus wirtschaftlichen Gründen oder aus dem Beharren auf dem zufällig Vorhandenen zu zaghaft an die Erneuerung gehe. Oft würde aber auch wertvolle Substanz der Wirtschaftlichkeit geopfert. Jedes Haus hat eine ihm zukommende Funktion und ein Gesicht, jedes Ensemble aus richtig verstandenen Häusern prägt die Seele der Stadt. Darauf müsse man sich bei jeder Maßnahme einlassen.

Mobilität der Zukunft

Auf die Frage, wo denn die Stellplätze für die Autos der vielen neuen Einwohner entstehen sollen, hat Franz Blüml keine Patent-Antwort. Oft seien die Bauherren zuversichtlich, dass die Bewohner für die Annehmlichkeiten des Altstadt-Wohnens längere Wege zum Parkplatz in Kauf nähmen. Auch die Stadt sei gefordert, zusätzlichen Parkraum zu schaffen. Man müsse aber auch überörtliche Zukunftsperspektiven beachten. Die Energiewende, beschleunigt durch die Abkehr von fossilen Brennstoffen in Folge des Russland-Ukraine-Kriegs, werde sich auf die Art der Mobilität auswirken. Individualverkehr mit Privatauto für jeden wird vielleicht bald nicht mehr selbstverständlich sein. Die Fortschritte bei Fahrassistenz-Systemen lassen überdies erwarten, dass es bald autonom fahrende Autos gebe, die sich allein einen Parkplatz suchen und – einen Schritt weiter – autonome Taxis, die Google-Waymo bereits in San Francisco erprobt. Ein Teil des Individualverkehrs könnte dadurch entfallen.

Neue Chance für den Einzelhandel

In Zeiten des boomenden Online-Handels und trotz erheblichen Leerstands bestehender Geschäfte noch neue Ladenlokale zu bauen – ist das nicht Anachronismus? Franz Blüml sieht die Notwendigkeit der Altstadt-Belebung vorrangig. Die Attraktivität ist auf ein buntes Angebot an Nahversorgung angewiesen. Die günstige Entwicklung des Industriestandorts bringt mehr Menschen mit gehobenen Ansprüchen und adäquaten Einkommen in die Stadt. Damit haben spezielle Einzelhandelsangebote insbesondere im Bereich Luxusgüter, Gesundheitspflege, Genuss durchaus eine Chance. Jüngsten Erhebungen nach sei auch der Boom im Online-Handel wieder im Abflauen.

Parallel zur Attraktivität der Altstadt würden immer mehr alte Höfe, die für die landwirtschaftliche Produktion kaum noch geeignet sind, in Wohnhäuser umgebaut. Bei den immensen Kosten für Eigenheime auf großen Einzelgrundstücken sind Wohnungen mit zeitgemäßem Standard im Außenbereich eine „grüne“ Alternative. Damit kommen urbane Ansprüche ganz von selbst in die Dorfstrukturen und damit ändern sich auch traditionelle Standpunkte. Abgesehen davon werde die Stadt mit sinkendem Altersdurchschnitt und steigender Einwohnerzahl von selbst stärker. Das könne zur Folge haben, dass 45 Jahre nach der Gebietsreform auch die ehemals selbständigen Gemeinden die Altstadt als Kern der Gesamtgemeinde verstehen.

Josef Wittmann