Ausbildung, Berufsausbildung, Bewerbung

Nochmal ganz von vorn anfangen

Lehrstelle suchen, Lebenslauf verfassen, Bewerbungsschreiben formulieren, Vorstellungsgespräch absolvieren, auf Antwort warten… Das ist aufregend für Sechzehn- oder Siebzehnjährige in der Abschlussklasse einer Mittel- oder Realschule. Doch nicht alle, die sich auf eine Lehrstelle bewerben, sind Teenager, die noch zur Schule gehen und bei den Eltern wohnen. Das Alter der Auszubildenden, die einen Ausbildungsvertrag neu abgeschlossen haben, ist im Bundesgebiet in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen – von achtzehn Jahren im Jahr 1993 auf knapp zwanzig im Jahr 2017. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Entscheiden sich beispielsweise zunehmend junge Leute mit allgemeiner Hochschulreife nach zwölf oder dreizehn Jahren Schule doch für eine duale Ausbildung statt für ein Studium, so hebt das natürlich das Durchschnittsalter.

Immer größer wird auch die Zahl der „Spätberufenen“, die ihre Lehrstelle im Alter von 24 und mehr Jahren antreten und nochmal „ganz von vorn anfangen“. 12,3 % machte ihr Anteil 2017 aus und war damit fast halb so groß wie derjenige der maximal 17jährigen (26,2%). Ins Gewicht fallen dabei gerade in letzter Zeit auch Auszubildende mit Fluchtbiografien: Wer sein Herkunftsland verlässt und bei uns ein neues Leben beginnt, fängt unter Umständen mit Mitte 20 oder sogar später noch einmal ganz von vorne an. Das Durchschnittsalter der Auszubildenden (Neuabschlüsse) ohne deutschen Pass lag schon 2017 mit 22,0 Jahren um mehr als 2 Jahre höher als bei den Auszubildenden mit deutschem Pass (19,6). Es ist anzunehmen, dass sich ihr Anteil seither noch erhöht hat.

In Törring lebt seit zwei Jahren der 31jährige Samia. Am 15. November 2019 hat er seine duale Ausbildung zum Metallbauer mit Schwerpunkt Konstruktionstechnik bei der Stahlbau Allgaier GmbH in Inzing, einem Betrieb mit rund 35 Mitarbeitern, begonnen. Da war er Ende zwanzig. Samia kam im November 2015 aus dem Iran nach Deutschland. Daheim hatte er den Beruf des Feinwerkmechanikers gelernt, „aber das ist im Iran anders organisiert als hier“, betont er. Das duale Ausbildungssystem, das auf den zwei Säulen Berufsschule und Ausbildungsbetrieb ruht, ist etwas speziell Deutsches. Anderswo gibt es oft nur die Wahl zwischen einer Berufsausbildung, die sich ganz im Lehrbetrieb abspielt, und einer Berufsfachschule ohne Verbindung zu einem Betrieb. Samia besuchte eine solche Schule in seiner Heimatstadt Abadan, doch ehe er die zweijährige Ausbildung dort abschließen konnte, verließ er das Land und landete schließlich in Deutschland, in Sasbachwalden in Baden-Württemberg, dann über verschiedene Stationen in Bayern, von Donaueschingen bis Alt- und Neuötting, schließlich in Traunstein – ohne anfangs ein Wort Deutsch zu sprechen.

„Ich hatte nie Interesse an Fremdsprachen“, lacht er heute in ausgezeichnetem Deutsch. „Ich habe in der Schule Englisch gelernt, da hatte ich immer eine Fünf.“ Offenbar verfügt er aber über eine ausgesprochene Begabung: In seinen Sprach- und Integrationskursen lernte er schnell. 2017 absolvierte er erfolgreich den B1-Kurs, doch für die Bewerbung zu einer Berufsausbildung verlangt das Jobcenter das nächsthöhere Niveau, B2. Das macht auch Sinn: Wer beim Berufsschulunterricht mitkommen und die Prüfungen dort bestehen will, muss unbedingt sattelfest sein in der Sprache.

Das weiß Johannes Lanser von der Bürgerhilfsstelle im Rathaus, der in den letzten Jahren schon zahlreiche junge Menschen begleitet hat, die in kürzester Zeit relativ gut deutsch lernten, dann aber in der Ausbildung Probleme mit dem Sprachniveau bekamen: „Oft sind die Geflüchteten, die eine Ausbildung anfangen, ja vorher schon länger im Betrieb tätig, zum Beispiel als Hilfskräfte, und sind in der Praxis sehr gut eingearbeitet. Dann gibt es aber in der Berufsschule Probleme, weil ihre Sprachkenntnisse zwar für das tägliche Leben und den Berufsalltag schon sehr gut ausreichen, aber eben nicht beispielsweise für eine Textaufgabe im Mathematik.“

Samia schaffte im zweiten Anlauf 2019 auch die B2-Prüfung, dann ging er auf Stellensuche, unterstützt vom Jobcenter. „Ich wollte wieder etwas mit Metall machen“, erklärt Samia. Das Jobcenter half mit einer sogenannten „Maßnahme“: Im Einzelcoaching lernte Samia, was hierzulande von Lebenslauf und Bewerbungsschreiben erwartet wird. Samia schrieb zahlreiche Bewerbungen, absolvierte ein Praktikum im Metallbereich, hatte ein paar Vorstellungsgespräche. Doch der ausgeschriebene Ausbildungsplatz bei der Firma Allgaier in Inzing wurde für ihn zunächst gar nicht in Betracht gezogen. Damals wohnte er noch in einer WG in Traunstein, und mit dem Bus morgens von Traunstein aus zur Arbeit zu kommen, war einfach unmöglich.

Ein glücklicher Zufall wollte es, dass er bei Einzelcoaching und Bewerbungstrainig im bfz Traunstein auf Rita Luft stieß. Der in Törring aufgewachsenen Tochter des dortigen langjährigen Lehrers und Schulleiters Martin Sedlbauer kam für Samia gleich der Inzinger Stahlbau-Betrieb in den Sinn. Den Geschäftsführer Hans Allgaier kannte sie von früher. Das Ausbildungsjahr 2019 hatte schon begonnen, als sie die Idee hatte: War es unmöglich, morgens vom Wohnort Traunstein mit dem Linienbus nach Inzing zu kommen, so ist es doch umgekehrt keine Hexerei, morgens mit dem Schulbus von Törring nach Traunstein in die Berufsschule zu fahren. Der Wohnortwechsel war die Lösung.

Hans Allgaier, der wie viele Betriebe seit Jahren händeringend Auszubildende suchte (und bis heute sucht), vertraute auf die persönliche Empfehlung der Ex-Törringerin, die von Samias Zielstrebigkeit beeindruckt war. Samia zog nach Törring, wo er nach einigem „Klinkenputzen“ einen Monat lang zur Untermiete untergebracht werden konnte, ehe es mit der eigenen kleinen Wohnung klappte. In seinem Ausbildungsbetrieb überzeugte er von Anfang an durch Fleiß, Zuverlässigkeit und Einsatz. Auch mit den Kollegen versteht er sich gut. „Es passt einfach“, sagt sein Chef. So lebt Samia in Törring, lernt und arbeitet in Inzing und fährt zur Berufsschule einmal pro Woche mit dem Bus nach Traunstein.

Samia geht gerne zur Arbeit und fährt ebenso gerne in die Schule. „Was ich jetzt lerne, ist ähnlich wie das, was ich in Iran begonnen habe, aber anders: Ich bin in einer Schlosserei, die Werkstücke sind viel größer und schwerer, aber es ist eben Metallbau. Ich habe gute Kollegen bei Allgaier. Es gibt auch mal Stress im Betrieb, aber das gehört dazu. Und wenn ich einmal in der Woche zur Berufsschule fahre, sehe ich mal andere Gesichter.“ Zur Arbeit fährt er im Sommer mit dem Fahrrad. Jetzt aber, wo es morgens und abends dunkel ist, lässt er sich lieber von Kollegen mitnehmen. „Auf der Straße ist es mir im Dunkeln zu gefährlich zu Fuß oder mit dem Rad. Wenn da ein Lastwagen fährt, wird es eng… Ein Radweg wäre gut.“

Ansonsten ist er zufrieden. Wenn alles gut läuft, kann er die Ausbildung 2023 abschließen. Nach seinen Wünschen für die Zeit danach gefragt, ist er realistisch: „Mit einer guten Arbeit kann man was erreichen. Da kann ich mir später ein Auto leisten, eine größere Wohnung. Das sind keine Träume, das ist möglich mit einer Ausbildung.“ Wenn es nach ihm geht, würde er nach der Ausbildung gerne in seinem Betrieb bleiben, zumindest vorerst. „Als Auszubildender darfst du noch nicht alles machen. Es gibt viele interessante Aufgaben dort, die ich gerne mal übernehmen würde.“

Gefragt, was er den jungen Leuten von hier mitgeben möchte, wenn sie über ihre Zukunft, ihre Ausbildung und den künftigen Beruf nachdenken, beweist Samia ein weiteres Mal, wie gewandt er sich inzwischen auf Deutsch ausdrücken kann: „Das Leben ist kein Wunschkonzert. Man muss auf manches verzichten im Leben.“ Aber das klingt nicht bedauernd. Es klingt realistisch, erwachsen und erfahren.

Zahlen zum Thema:
Insgesamt haben in Tittmoning seit 2015 vier Geflüchtete (je einer aus Syrien, Pakistan, Nigeria und Afghanistan) eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Zehn Menschen, die die Flucht zu uns verschlagen hat, haben hier eine Ausbildung angefangen: Neben Samia (Iran) kommen davon je drei aus Syrien, Pakistan und Afghanistan. Drei weitere Syrer sind derzeit in beruflicher Weiterbildung, vier haben ein Studium aufgenommen.

(Quelle: Bürgerhilfsstelle der Stadt Tittmoning)

Dr. Gerda Poschmann-Reichenau