Gemeinwohl-Ökonomie – Formsache oder Weg aus der Krise?

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Das Leitbild ist wichtiger als die Zertifikate, sagen die Praktiker

Die Nachbar-Gemeinde Kirchanschöring hat als erste Kommune Deutschlands eine Gemeinwohl-Bilanz aufgestellt und zertifizieren lassen. Erste Unternehmen in der Stadtgemeinde haben ebenfalls das Gemeinwohl-Zertifikat erhalten oder befinden sich in der Vorbereitungsphase. Aber nur wenige Leute wissen, was es damit auf sich hat.

Verlässt man sich auf Online-Quellen, so entsteht der erste Eindruck, die Gemeinwohl-Ökonomie sei von Christian Felber erfunden worden und bestehe im Wesentlichen aus einer Ergänzung der Handelsbilanz durch eine Gemeinwohlbilanz, die anhand einer Matrix die nicht materiellen Werte eines Unternehmens oder einer Institution aufführe. Auch die inzwischen zahlreichen Beratungs-Teams, die gegen Honorar Interessenten helfen, ihre Gemeinwohl-Aktivitäten zu bilanzieren, stellen den formalen Vorgang in den Vordergrund. Oberflächlich besehen, erscheint das Zertifikat als Ergebnis eines bürokratischen Akts. Die Öffentlichkeit nimmt es (wenn überhaupt) als zusätzliches Emblem zur Kenntnis, das nachhaltiges Wirtschaften bescheinigen soll.

Christian Felber, 1972 in Salzburg geboren, hat im Hauptfach romanische Philologie studiert und, einfach gesagt, als Spanisch­lehrer seinen Master gemacht. Als Nebenfächer hat er Politikwissenschaft, Psychologie und Soziologie studiert. Nach dem Studium hat er sich als Autor und politischer Aktivist für eine alternative Wirtschaftsordnung eingesetzt. Er hat eine Reihe wirtschaftskritischer Bücher verfasst, Attac Österreich gegründet, zahlreiche Lehraufträge an Universitäten erhalten und ist mit vielen akademischen und Literatur-Preisen ausgezeichnet worden. Er hat unzählige Vorträge gehalten und unter vielem anderem an der Matrix zur Bilanzierung von immateriellen, für das Gemeinwohl relevanten Werten mitgewirkt. Er selbst bezeichnet sich nicht als Wirtschaftswissenschaftler, wird aber in vielen Publikationen in einer Reihe mit  John Maynard Keynes, Karl Marx, Milton Friedman und Friedrich August von Hayek genannt.

Im Gegensatz zu den berühmten Wissenschaftlern, die das moderne System der Weltwirtschaft erforscht und gedeutet haben, hat Felber erkannt, dass die kapitalistische Wirtschafts­ordnung kein natürliches System ist und Menschen und Natur ohne Zeit- und ohne Größenbegrenzung ausbeutet. Er hat damit nichts unerhört Neues entdeckt, sondern die Idee des Gemeinwohls aufgegriffen, die seit der Antike die Denker beschäftigt.

Der moralischen Bedeutung des Gemein­wohls haben sich ab dem 18. Jhd. die Philosophen der utilitaristischen Ethik angenommen. Der britische Rechts­philosoph Jeremy Bentham (1742 -1832) hat das Prinzip, die größtmögliche Glückseligkeit für die größtmögliche Zahl der betroffenen Menschen anzustreben, als „den Maßstab, mit dem allein die Angemessenheit menschlichen Verhaltens … überprüft werden kann“ bezeichnet und damit klar das Wohlergehen der Gemeinschaft der Menschen über alle anderen Ziele gestellt.

Die Gemeinwohl-Ökonomie versucht, das herrschende Wirtschaftsmodell, in dem Gewinn und Expansion die alleinigen Antriebe und die höchsten Ziele des Handelns sind, wieder zu einem ethischen Verhalten gegenüber Mensch und Natur zu bringen. Das ist ein großes Anliegen, wenn man bedenkt, dass Unternehmen zu autonom funktionierenden Sachapparaten geworden sind, in denen Menschen nur kurzzeitig, auswechselbar und dem Expansionsdrang verpflichtet eine Beschäftigung finden.

Wenn Unternehmen sich aber ein Leitbild verordnen würden, das am Gemeinwohl orientiert ist, wenn sie den Erhalt des Lebens und der natürlichen Grundlagen mindestens gleichwertig mit dem wirtschaftlichen Erfolg bewerten würden, wenn sie den Menschen als Soziales Wesen respektieren würden, könnten sie auf lange Sicht erfolgreicher sein als ihre destruktiv expandierende Konkurrenz.

Die Formulierung eines dem Gemeinwohl förderlichen Leitbildes ist für viele Unternehmer und Manager die eigentliche Herausforderung. Sich nicht mit den Selbstverständlichkeiten des wirtschaftlichen Erfolgs zu begnügen, sondern den Wert des Unternehmens für die Gesellschaft und für die natürliche Umgebung zu schätzen und diesen Wert auf lange Sicht zu erhalten, löst ein Umdenken aus. Oft sind die Beteiligten sehr erstaunt, wie viel an Gutem sie bereits tun, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, und wie viel mehr ihnen einfällt, an das sie vorher nicht gedacht hatten, weil die Handelsbilanz den materielle Erfolg als einzigen in der Bilanz ausweist.

Josef Wittmann

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