Spatz am Dach

„Ist das nicht wunderbar?!“ ziept der Spatz voller Glückseligkeit seiner Spätzin zu: „Milder Winter, niemand erfroren, und jetzt, schau nur, bricht sich die Sonne durch den Hochnebel und die alten Häuser am Stadtplatz schauen aus, als ob sie ein begnadeter Visagist für den Opernball geschminkt hätte.“ Sie haben Recht, liebe Leserinnen und Leser, so geschwollen redet ein Stadtplatzspatz nicht daher, sein Jubel-Ziep heißt wohl eher: „Schaug no, wia schee!“

Die Spätzin schaut schon. Die Menschen, sieht sie, blicken meistens auf den Boden. Wie immer. Mit ihrer flügellosen Fortbewegung müssen sie aufpassen, dass sie nicht übers Pflaster stolpern. Dadurch wirken sie schwerfällig, unelegant, grämlich. Und die schöne Welt rundum (so schön auch wieder nicht, wie der Spatz grad meint, aber das wird sie ihm schon noch hinreiben) können sie folglich gar nicht wahrnehmen. Wollen sie, scheint es, auch gar nicht. Selbst im Sitzen vor den Cafés schauen sie nach unten, in die Kaffeetasse, auf den Kuchenteller, in die Zeitung (die Alten), ins Smartphone (die Jungen). Und je länger sie schauen, desto schwerfälliger, uneleganter, grämlicher wirken sie.

Sie hätten eigentlich allen Grund, froh zu sein. Der Klimawandel hat ihnen einen milden Winter beschert, die Öl- und Gas-Vorräte haben locker gereicht, der Krieg ist in der Ukraine geblieben, die Inflation ist spürbar, aber nicht mehr existenzgefährdend, immer noch gibt es reichlich Arbeit und anständigen Lohn, verglichen mit heimtückischen Hauskatzen, die ein Spatzenleben ratzfatz beenden können, ist sogar die Bürokratie ein berechenbarer Gegner. Aber irgendwas ist los mit ihnen: so richtig freuen tut sich niemand.

Der Spatz tut die Erkenntnisse seiner Gefährtin mit einem leichten Federwacheln ab: sind halt komische Vögel, die Leut. Er hat grad im Schaufenster der neuen Tourist-Info das Kulturprogramm für den Sommer gelesen. Platzkonzerte den ganzen Sommer über, Ausstellungen in allen Sälen der Burg und der Stadt, Flohmarkt, Stadtfest … unmöglich, überall hinzufliegen, stellt der Spatz fest, und bei der Aussicht auf reichliche Teilhabe an der festbedingten Verköstigung kitzelt ihn richtig der Schnabel. Das wird ein Jahr!

Der alte Rotdorn gleich nebenan ist grad frei, da lässt er sich nieder. Noch ist der Baum ziemlich kahl, aber bald steht er in voller Blüte und unter den frischen Blättern wird er sich einrichten, der Spatz, einfach schee.

Josef Wittmann