Spatz am Dach - Glosse von Josef Wittmann

Spatz am Dach

Der Spatz hat sich wieder einmal in den herbstlich lichten Rotdorn vorm Rathaus zurückgezogen. Die neuen Wohnungen in den Robinien, Kugelakazien und Apfeldornbäumen sind ja ganz schön, haben bei Wüstenhitze im Juli und Starkregen im August auch ihre praktischen Vorteile, aber als alteingesessener Gehsteigbeobachter hängt er den guten alten Zeiten der Rotdorn-Alleinherrschaft immer noch nach.

Er ist ja kein heuriger Vogel mehr, kennt das Kahlwerden der Äste und das Kürzerwerden der Tage aus Erfahrung, weiß, dass der garstige Winter unvermeidlich auch bald kommt und macht sich Gedanken über das fast abgelaufene Jahr. Eigentlich, sagt er sich, ist das Jahr eh besser geworden, als die durcheinanderzwitschernden Experten verheißen haben. Die Katzenplage nach dem Ende der Corona-Lockdowns ist ausgeblieben, Menschen, die sich ein vierbeiniges Schmusetierchen angeschafft haben, schmusen immer noch mit ihren Wohnungsgenossen, also hat das milde Frühjahr (trotz der Frostwoche, die den Obstbaumblüten den Garaus gemacht hat) zu vollen Spatzenkindergärten geführt und in der Folge zu gut besetzten Biergartenbäumen im Sommer.

Der Wüstensommer mit Rekordhitze und ausgetrockneten Flüssen ist auch nicht ganz so gekommen, wie von den Experten angezwitschert, dafür hat s Stürme gegeben, die so manches Naturdenkmal unter den Stadtbäumen gefällt haben (die der Spatz aber, ins Astwerk geduckt und alle Federn eng angelegt, leicht überlebt hat). Mei, und eine verregnete Ferienzeit kümmert den Spatzen wenig, er kann ja Ferien machen, wenn die Herbstsonne scheint.

Als Kulturbegleiter hat ihm gefallen, dass es wieder ein Stadtfest gegeben hat. Ein echtes, traditionelles, mit Regengüssen und gleich drauf wieder Sonnenschein, mit ganz vielen Bänken, auf denen die Leut Brotzeit machen und bis in die späte Nacht hinein Brösel fallen lassen. Eine Blaulichtzone hat s gegeben, wo die Menschen ihre liebsten Spielzeuge vorgestellt haben, und Bühnen, auf denen sie einander was vormusizieren konnten. Das allgemeine Selbersingen haben die Menschen schon lange verlernt, seltsame Vögel, die sie sind, brauchen sie den Gesang nimmer zur Balz, dafür haben sie Smartphones. Die Experten unter den Spatzen sind mit dem Merken der Klingeltöne beschäftigt und können deshalb die Folgen der Veränderung noch nicht abschätzen.

Der Wahlkampf ist dem Spatzen wurscht. Das Ritual hat er immer noch nicht verstanden. Geändert hat sich noch nie was, aber für die Leut ist es, scheint’s aufregend. Sind halt komische Vögel.