Der Haussperling ist laut Lexikon ein geselliger Kulturbegleiter und lebt mit Vorliebe dort, wo Menschen ganzjährig ihr Wesen treiben. Der Stadtplatz ist zweifellos so ein Ort. Wer den Stadtplatz kennt und gelegentlich fußläufig nutzt, ist dem Spatzen auch bestimmt schon begegnet, wenn er in den Bäumen sitzt, allzeit bereit, die Kultur zu begleiten.
Im Sommer geht es ihm mit diesem Anliegen relativ gut. Den Musikgruppen, die an den Wochenenden für überschaubare Menschenscharen ihre Instrumente klingen lassen und mitunter dazu singen, hört er aufmerksam zu. Die verschiedenen Musikstile gefallen ihm allesamt. Manchmal ist er so begeistert, dass er ein paar Takte mitsingt (bis ihm sein Weibchen einen vernichtenden Blick zuwirft und ihm aufträgt, den Schnabel zu halten). Noch besser gefällt ihm, dass viele Menschen die kulturelle Tradition der gemeinsamen Arbeitspause pflegen und dabei nicht nur Bier trinken, sondern auch Brotzeit machen, wobei sie großzügig Brösel vom Tisch wischen. Da fühlt er sich gut aufgehoben, auch wenn ihn bei dieser Geste niemand wirklich wahrzunehmen scheint.
Ab Herbst wird die Sache schwieriger: Die Menschen (in Tittmoning, aber er kennt ja sonst keine) verzichten dann vorwiegend auf Kultur. Es gibt zwar Kunstaustellungen, aber da geht kaum jemand hin. Es gibt Märkte mit buntem Angebot, die ein paar Leute interessieren. Es wird Theater gespielt in Sälen, die erschwert zugänglich sind, in Gebäuden, die dem Spatzen ziemlich verlassen vorkommen. Es gibt Tische und Stühle vor den letzten Gaststätten, die aber nur von winterharten Zechern aufgesucht werden. Es gibt … ja was gibt s denn überhaupt noch, was der Spatz begleiten könnte? Muss er sich ein Leichtflugzeug zulegen, damit er die immer größer werdenden Autos mit je einem Insassen darin begleiten kann, in der Hoffnung, dass dort die Kultur wäre, wo sie hinfahren?
Kein Wunder, dass sich der Spatz um die menschlichen Mit-Geschöpfe Sorgen macht. Haben sie ihre Geselligkeit verlernt? Haben sie einen Konto-Warner im Hirn, der durchdringend piept, wenn sie sich einem Wirtshaus nähern? Ist die Kultur von der Bürokratie erwürgt? Oder hat sie das Smartphone verdrängt? Im kahlen Geäst seines Baums sitzt der Spatz und wartet sehnsüchtig auf Menschen, deren Kultur er begleiten kann.